Der Verfasser der UN-Völkermordkonvention Raphael Lemkin definierte »Genozid« nicht nur als physische Vernichtung, sondern auch als Grup-penverbrechen, bei dem ein Überleben ohne Preisgabe der eigenen Identität unmöglich ist. Das vorliegende Buch von Kâzım Gündoğan bestätigt Lemkins These auf eindrucksvolle Weise. Es zeigt am Beispiel der Geschichte der Armenier aus der ostanatolischen Region Dersim, was es heißt, infolge eines Völkermords die eigene ethnische und religiöse Identi-tät nicht länger bewahren zu können.
72 Interviews mit Menschen armenischer Herkunft in und aus Dersim sowie 12 Gespräche mit alevitischen Kurden und Zaza machen eine bis heute unbearbeitete und ungelöste Gewaltgeschichte sichtbar: den Völkermord von 1915 sowie die Massaker und Deportationen von 1937/38, die alevitische Kurden, Zazas und Armenier gemeinsam erlitten. Damit einher gingen auch die zwangsweise sprachliche und religiöse Assimilation der Armenier sowie der Leugnung ihrer christlich-armenischen Identität – eine Last, die über Generationen hinweg weitergetragen wird. Die Armenier, die bereits Aleviten waren oder zu Aleviten gemacht wurden, suchten nach verschiedenen Wegen, um zu überleben: sich von ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Religion zu entfernen, gemischte Glaubensformen zu entwickeln oder nach Istanbul, Europa, in die USA und nach Australien auszuwandern und zum Christentum zurückzukehren.
Dieses Werk ist nicht nur für die internationale Völkermord- und Menschenrechtsforschung von Bedeutung, sondern auch für die allgemeine Leserschaft einschließlich der in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern lebenden Migrantengemeinschaften aus der Türkei (Türken, Kurden, Aleviten, Armenier u. a.). Die ins Deutsche übersetzten Interviews bieten eine unverzichtbare empirische Grundlage, um die langfristigen Folgen jener Genozide zu untersuchen, die weder im Osmani-schen Reich noch in der Geschichte der Türkischen Republik rechtlich oder gesellschaftlich aufgearbeitet wurden. Ergänzt wird der Band durch drei Beiträge von Mihran Dabag, Tessa Hofmann und Ahmet Kerim Gültekin sowie ein Glossar, die eine Einführung in die Geschichte der Region und in die alevitische Tradition (Raa Haq) geben.