Generalität des Körpers

Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften

  • 1. Auflage
  • Erscheinungsdatum: 18.12.2020
  • broschiert
  • 356 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-95832-223-3
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Beschreibung


»Der gemeinsame Stoff, aus dem alle Strukturen bestehen, ist das Sichtbare«. Die Geltungsansprüche soziokultureller Sinnstrukturen setzen stets eine offene Generalität der Körper, ihrer Grammatik und ihrer sensomotorischen Korrelationsmatrices voraus. Sprache, Kommunikation und Gesellschaft bleiben körpergebunden und sind daher nicht als Systeme, sondern nur als Felder sozialer Praxis mit Reichweiten, Anonymitätszonen und Horizonten versteh- und analysierbar. Diese Thesen im Zusammenhang einer Revision der soziologischen Lektüre des Werkes von Merleau-Ponty zu konkretisieren, ist das Anliegen des Buches.
Bis heute wird übersehen, dass dieser bereits in den 1950er Jahren die Transformation eines romantischen in ein strukturales Körperkonzept vollzog. Dieses Programm lässt sich auch als vorweggenommene Kritik eines Konzepts (deutscher) »Leiblichkeit« lesen, das mittlerweile Eingang in die Soziologie gefunden hat und mit dem Namen Hermann Schmitz verknüpft ist.
Interessant ist die Linie zu den aktuellen soziologischen Praxistheorien. Pierre Bourdieu konnte wesentliche Elemente seines praxeologischen Ansatzes den Vorlesungen Merleau-Pontys entnehmen, allerdings bleibt dieser Einfluss und mit ihm die Brüche in Merleau-Pontys Denken unterreflektiert. Das erklärt das Nebeneinander von romantischem Körperkonzept und strukturalistischem Vokabular in Bourdieus Praxistheorie, das bis in die heutige soziologische Theoriediskussion nachwirkt.
Die vorliegende Studie entdeckt Merleau-Ponty als Kritiker eines romantischen Körperkonzepts, als Cartesianer gegen den Strich, als Gedächtnis-, Sprach- und Strukturtheoretiker neu. Seine Vorlesungen der 1950er Jahre hinterfragen Grenzziehungen der »Menschenwissenschaften« (Elias) und eröffnen Perspektiven eines interdisziplinären Verständnisses von Natur, Kultur und sozialer Struktur jenseits von Naturalismus, Kulturalismus und Strukturalismus.

Jörg Michael Kastl


Jörg Michael Kastl ist Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er war Assistent am Soziologischen Institut der Universität Tübingen und habilitierte sich 1999 für das Fach Soziologie. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie sowie die Soziologie des Körpers, des Gedächtnisses, der Behinderung, psychischen Erkrankung und Rehabilitation.

Veröffentlichungen:

Einführung in die Soziologie der Behinderung, VS-Verlag 2017.

Grenzen der Intelligenz. Die soziologische Theorie und das Rätsel der Intentionalität, Fink-Verlag 2001.

Pressestimmen


Gesellschaftliche Strukturen sind [...]beobachtbare Prozessstrukturen des Verhaltens, Sprechens, Handelns, Ausdrückens und Praktizierens. Sie sind nur als solche wirklich. Letztlich handelt es sich dabei wie gesagt noch in ihren symbolischen Formen um Körperbewegungen mit einer sehr komplexen und variablen Syntax. Sie liegen nicht oberhalb der empirischen Ereignisse, sondern artikulieren sich im Vollzug. Handlungen und Struktur lassen sich als empirische Phänomen nicht voneinander trennen. Man spricht in diesem Zusammenhang seit den 1990er Jahren von 'Performativität'. Ich behaupte, dass diese Idee wesentlich auf Merleau-Ponty zurück geht, Teil der unausgewiesenen Beute ist, die man aus dem Steinbruch seiner nachgelassenen Äußerungen und Texte herausgebrochen hat. [...]
J.M. Kastl im Interview mit L.I.S.A. - Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung, 25.05.2021.
Was uns, wie Marx sagt: 'einer sachlichen Gewalt' aussetzt, was 'unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durch-kreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht' – das wird konkret immer nur über die Körper der Anderen erfahrbar. Es sind die vielen Anderen, die meinem Körper und seinen 'Bewegungen', Äußerungen, Resonanz, Bedeutung geben, aber eben auch Widerstand entgegensetzen, seine Initiativen hemmen, Resonanz versagen oder eingreifender: ihn disziplinieren, schädigen oder vernichten können. Die einzigen wirklichen 'sozialen Dinge', das sind die Körper der Anderen. 'Die' Gesellschaft“ oder 'die' Verhältnisse sind nichts weiter als Modellvorstellungen. Wenn sie als solche eine dinghafte Wirkung auslösen sollen, so ist auch das gebunden an ihre operative, 'leibhaftige' Aktualisierung als körpergebundenes Wissen.
J.M. Kastl im Interview mit L.I.S.A. - Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung, 25.05.2021.