Magazin 08/2004

Giacomo Marramao: Öffentlichkeit und Erfahrung in der globalen Zeit

Universalistische Differenzpolitik

Die hier in Thesenform formulierten Überlegungen nehmen ihren Ausgang vom vitalsten und fruchtbarsten - das heißt konzeptionell und politisch praktikabelsten - Aspekt der Kritischen Theorie: dem Zusammenhang von Öffentlichkeit und Erfahrung, der die kritisch-emanzipatorische Dimension und die Dynamik der Konstitution der Subjektivität innerhalb konkreter Lebenswelten umreißt. Die Deutungen dieses Zusammenhangs gehen bekanntlich bei Oskar Negt und Jürgen Habermas weit auseinander und bilden zwei unterschiedliche Lesarten der gegenwärtigen Phase des Übergangs zur "postnationalen Konstellation" oder - um eine Formulierung von Philippe Schmitter zu verwenden - zu einer "Ordnung, die über Hobbes hinausweist", nämlich die Globalisierung. Inwieweit ist es möglich, auch unter den neuen Gegebenheiten Oskar Negt zu folgen, der im Laufe der letzten dreißig Jahre mit außerordent-licher theoretischer Intensität und politischer Leidenschaft die mikrologische Analyse Adornos und die wissenschaftsskeptische Erkenntnistheorie des Nicht-Identischen, des Verdrängten und des Unerforschten aktualisiert hat, um eine Gegen Geschichtsphilosophie des Widerstands (längst nicht mehr nur der Industriearbeiterschaft) gegen die scheinbar unaufhaltsame Welle der weltumspannenden Moderne zu entwerfen? Zum vollständigen Artikel (pdf)

Magazin 02/2004

Utopie neu denken

Plädoyer für eine Kultur der Inspiration

Das Thema Utopie hat derzeit keine Konjunktur. Statt utopischen Überschwangs regiert allenthalben Pragmatismus. Die schwierigen Probleme in Politik, Gesellschaft und Kultur – der Umbau des Sozialstaats und der Konflikt der Kulturen, die Regelung des Machtungleichgewichts im Staatensystem und das wachsende Gefälle zwischen Nord und Süd, die drängenden Umweltprobleme und die Leichtfertigkeit des Umgangs mit ihnen – verlangen konkrete und wirksame Lösungen und nicht utopische Gegenbilder einer heilen Welt. Mit Lebensformen, die heutzutage ihre Zukunftsfähigkeit einzubüßen beginnen, sind auch die einst in sie eingegangenen Sehnsüchte und Hoffnungen obsolet geworden. Das Vertrauen in die Regelungskompetenz des Staates ist geschwunden. Die ökonomische Sphäre der Märkte hat sich mehr denn je dem staatlichen Zugriff entzogen und ihre zügellose Dynamik bietet eher Anlaß zu Kritik, als daß sie noch Potential der Hoffnung auf Wohlstand für alle wäre. Erhebliche Veränderungen in den Lebensumständen (zum Beispiel demographischer Art) führen zu neuen Unsicherheiten und generieren einen deutlichen Handlungsbedarf. Bislang ist es jedoch nicht gelungen, diese Unsicherheiten durch ein übergreifendes, inspirierendes und konsensfähiges Ziel einer neuen Lebensform zu kompensieren. Der gebieterische Pragmatismus problemlösenden Handelns paart sich mit einer eigentümlichen Abwesenheit handlungsstimulierender Vorstellungen, die ein adäquates Pendant zu den obsolet gewordenen kulturellen Leitvorstellungen der Nachkriegszeit darstellen könnten. Zum vollständigen Artikel (pdf)

Magazin 02/2004

Unternehmenskultur

Die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen

Was beobachten wir, wenn wir das beobachten, was wir »ein Unternehmen« nennen? Gebäude, Maschinen, Büros, oder Mitarbeiter, Führungskräfte, Bilanzen? Oder besteht ein Unternehmen gar, wie N. Luhmann und seine Schüler meinen, ausschließlich aus Entscheidungen? Unternehmen, das dürfte konsensfähig sein, sind keine statischen Gebilde, die man in Gänze beobachten könnte. Was wir allerdings beobachten und nach verfolgen können, sind Prozesse und Träger von Prozessen in konkreten Kontexten. Drei Typen von Prozessen dürften für »Unternehmen« von besonderer Bedeutung sein: Beobachtungs-, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse. Diese Prozesse laufen nicht willkürlich oder ungeordnet ab, sondern sie sind in sich geordnet und aufeinander bezogen. Akzeptiert man diese Annahme, dann eröffnet sich eine Möglichkeit der theoretischen Modellierung von »Unternehmen« als Prozess-System, das aus Prozess-Systemen besteht. Jedes dieser Prozess Systeme folgt seiner spezifi-schen Logik, die keineswegs immer rational ist. Mit dieser ersten Modellierung gewinnen wir drei Beobachtungsperspektiven auf das, was wir »Unternehmen« nennen. Daraus folgt zweierlei:
- Unternehmen »gibt« es ausschließlich in der beobachtenden und beschreibenden Bezugnahme auf ablaufende Prozesse, denen Beobachter in der Bezugnahme eine Beobachtungs- und Beschreibungsstruktur aufprägen.
- Prozesse können von den Prozess-Trägern selbst (Selbstbeobachtung) oder von externen Beobachtern beobachtet werden (Fremdbeobachtung). Die dabei resultierenden Beobachtungen dürfen nicht miteinander verwechselt werden.
Die drei genannten Prozess-Systeme operieren reflexiv. Das heißt, jeder in einem Unternehmen Handelnde (Aktant) weiß, dass er nicht nur andere beobachtet, sondern auch von anderen beobachtet wird; kurzum, Aktanten in Unternehmen sind beobachtete Beobachter. Kommunikationsprozesse sind reflexiv, weil sie nur in Interaktion mit anderen Aktanten durchgeführt werden können und erst dann sinnvoll sind, wenn die Kommunikationspartner wechselseitigaufeinander reagieren. Und Entscheidungen sind insofern reflexiv, als sie aus Entscheidungen hervorgehen und nachfolgende Entscheidungen präfigurieren. Die drei genannten Prozess-Systeme sind komplementär, da sie sich gegenseitig konstituieren. Beobachtetes wird mitgeteilt und Mitgeteiltes beobachtet, bestimmte Beobachtungen erzeugen Entscheidungsbedarf, und Entscheidungen müssen kommuniziert werden, um wirksam zu werden, und können als mitgeteilte Entscheidungen wiederum beobachtet und kommuniziert werden, und so fort. Zum vollständigen Artikel (pdf)

Magazin 02/2004

Vertragsdenken und Utopie

nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus

Heute wird, besonders in den neuen Bundesländern, viel vom Erneuerungsprozeß gesprochen, der sich in Staat und Gesellschaft Bahn brechen müsse. Eine Erneuerung aber, so scheint mir, ist nicht möglich, wenn unklar bleibt, warum die marxistisch-leninistischen Herrschaftssysteme scheiterten und warum zur gleichen Zeit der Verfassungstypus »westliche Demokratie«, zumindest in Europa, einen scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug angetreten hat. Gewiß, diese Entwicklung wurde durch ein komplexes Geflecht innen- und außenpolitischer Faktoren mitbewirkt, die hier nicht weiter diskutiert werden können. Doch darüber hinaus gibt es auch Erklärungsmuster, die in einem bestimmten politischen Denken verankert sind. Die große Herausforderung der politischen Ideengeschichte sehe ich darin, die Begründungszusammenhänge seiner jeweiligen zentralen Kategorien in ihrem historischen Kontext bis zur Gegenwart freizulegen.
Ausgehend von meinen ideengeschichtlichen Forschungen möchte ich die These aufstellen, daß es seit der frühen Neuzeit einen vertragstheoretischen und einen utopischen Weg in die Moderne gab, die jeweils spezifische Denkformen und Gesellschaftstheorien hervorgebracht haben. Zum vollständigen Artikel (pdf)