Magazin 11/2020

Corona: Indikator einer schon lange gegenwärtigen Krise

Wenn »Corona« der Name einer globalen Krise ist, dann kann dieser Name keinen Ausnahmezustand bezeichnen.

Krisen sind nichts Außeralltägliches, und von der Welt kann nichts sich ausnehmen oder ausgenommen werden. Für die Gesellschaft, die sich als Weltgesellschaft zu verstehen gelernt hat, ist das eine an Schärfe und Bitternis kaum zu unterschätzende Erkenntnis. Die Weltgesellschaft ist eine inklusive Umgebung, eine Umgebung, die alle ihre Grenzen untereinander vernetzt, die kein Außen mehr abtrennt und kein Innen mehr isoliert, die komplex und unsicher ist und von der es keinen Rückzug in Einfachheit und Sicherheit gibt: keine Ausnahme. Keine Dürre, keine Flut, kein saurer Regen, keine ›Neurodermitis‹ und kein ›Pseudokrupp‹-Husten haben es bisher vermocht, diese Erkenntnis anschaulich und begreiflich zu machen. Dem Corona-Virus gelingt das, endlich – und weil auch die temporalen Grenzen der Welt vernetzt sind, nicht endlich, sondern jetzt, in schierer, gedehnter Aktualität. Ein Ausnahmezustand ist es nicht, eine Apokalypse ist es auch nicht (denn dafür müsste die Welt überschreitbar werden), aber eine Plage ist es, eine Warnung, das heißt: ein Hinweis – nicht auf die Folgen des Klimawandels oder einer Lungenerkrankung, sondern auf die Implikationen vernetzter, inklusiver Globalität.

»Corona« indiziert eine lange schon gegenwärtige Krise, eine träge Gewohnheit, die jetzt ein plausibles Skript gefunden hat, eine Rollenvorschrift, die sich unter einer operettenhaften Heldenlarve einer Natur als Überlebensparcours umso energischer zu verbergen versucht, wie sie »Alltagsmasken« als städtisch-ängstliche Prothesen ablehnt. Es ist das Ressentiment des Selbstverständlichen, das seine Unwahrscheinlichkeit versteht, aber nicht akzeptiert. Die Requisiten dieser Operette sind die Schlachthöfe der Fleisch-, die Fließbänder der Auto-, die Laborkriege der Rüstungs-, die Boxringe und Stadien der Sport- und die Strandwüsten der Tourismusindustrie.1 Wer in diesem Fundus gräbt, fördert die verrosteten Stahlgewitter des Krieges zutage und träumt sich in Bewährungsproben hinein, die – so sehr man ihn anklagt: man preist dann doch den zwangsweise in Ketten legenden Lockdown, den gewaltsam niederwerfenden Shutdown – nur mittels der drei, vier griffbereiten Fernbedienungen auf der Wohnzimmercouch bestanden werden müssen. Die Friseure schließen! – Gottlob, also werden Samsons Haare wachsen, seine Stunde wird kommen, dann wird er frei sein, und die Philister werden ihr blaues Wunder, ihren Showdown erleben. Dann werden die Masken fallen!

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Aus: Markus Heidingsfelder, Maren Lehmann
Corona

  • 1. Auflage
  • Erscheinungsdatum: 21.12.2020
  • Buch
  • 364 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • 39,90 € *

ISBN 9783958322370