Magazin 06/2022

Die Instagram(m)atisierung des Geschmacks

Von Patricia A. Gwozdz

Lesegewohnheiten ändern sich mit dem Medium, sie erfordern einen eigenen Zugriff auf das Rezipierte. Deutlich wird das am Hypermedium Smartphone, das heute eine »agency« ermöglicht, die Sinnesdaten in rasender Geschwindigkeit erschafft, sendet, empfängt, berechnet und sie auf dem Interface seiner User:innen als Post innerhalb eines Feeds in Erscheinung treten lässt. Welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit wir uns zu mündigen User:innen erziehen können und uns nicht in der Schnelligkeit der Posts verlieren, fragt Patricia A. Gwozdz (zuletzt bei Velbrück Wissenschaft erschienen: Homo academicus goes Pop) in ihrem Beitrag für das Velbrück Wissenschaft Magazin. Darin untersucht sie »Die Instagram(m)atisierung des Geschmacks« und skizziert ausgehend von Walter Benjamin eine »Kritik der digitalen Urteilskraft im Zeitalter ihrer algorithmischen Reproduzierbarkeit.«

Wir schließen die Augen und spitzen die Ohren. Aus dem Off ertönt eine Stimme, die uns eine Geschichte unter streng zeitlichen Vorgaben der Sendeanstalt erzählt. Die Instruktionen sind klar vorgegeben: »– Also vergessen Sie nicht: zwanglose Vortragsart! Und auf die Minute schließen! « (Benjamin 1991: 761–763, Bd. II/2) Der Vortragende, dem Diktat der Zeit unterworfen, liest so schnell, dass er sogar Zeit akkumuliert. Statt der Stimme verbleibt ein Rauschen. Er kehrt zu Tisch und Mikrofon zurück und dekomponiert unter der »sechzigfachen Geschwindigkeit«des Sekundenzeigers das Manuskript: »Hatte ich mich jetzt im Tempo vergriffen? «, schießt es noch durch den Kopf. Doch »nun begriff ich das Ausbleiben des Ansagers«und »im gleichen Augenblick umfing mich die Stille, die noch eben wohltuend gewesen war, wie ein Netz. In dieser, der Technik und dem durch sie herrschenden Menschen bestimmten Kammer, überkam mich ein neuer Schauer, der doch dem ältesten, den wir kennen, verwandt war. Ich lieh mir selbst mein Ohr, dem nun auf einmal nichts als das eigene Schweigen entgegen tönte. Das aber erkannte ich als das des Todes, der mich eben jetzt in tausend Ohren und in tausend Stuben zugleich hinraffte. «In dieser Todesnähe, in der sich »unbeschreibliche Angst«vor dem Off mit »wilder Entschlossenheit«paart, stellt sich Rettung ein: »Retten, was noch zu retten ist«. Doch im erinnernden Eindruck des Radiohörers verbleibt lediglich: »Es war sehr nett.« (ebd., S. 763)

Weiterlesen