Magazin 11/2020

Die Psychologie des Kolonialismus

Mongi Serbaji über Albert Memmis Portrait du colonisé

Zur Einführung

Unter einem beschreibenden Portrait einer Person – einem Versuch, der über eine schmerzhafte autobiografische menschliche Erfahrung reflektiert, durch die ein Autor »sich zu verstehen« sucht – ist die literarische Gattung von Albert Memmis Portrait du colonisé précédé du Portrait du colonisateur schwer zu fassen. Die Beschreibung einer individuellen Erfahrung verbindet sich hier mit einer philosophischen Reflexion über Herrschaft als Entmenschlichung. Der Typus des vom Autor gelebten und nachgezeichneten Dramas wurde hingegen, soweit es ihn betrifft, von einem großen Teil der Menschheit geteilt, der tief davon betroffen war. Es handelt sich um das Drama der Kolonisierung während des 19. und 20. Jahrhunderts, dessen Folgen noch heute andauern und schwer auf ihren Opfern lasten.

Die Kolonisierung wird im Werk Memmis, des frankophonen Philosophen und Essayisten tunesischer Herkunft aus jüdischer Familie, als ein sowohl vom Kolonisierten als auch vom Kolonisator geteiltes Drama verstanden und beschrieben. Zunächst einmal ist sie »ökonomischpolitische Ausbeutung«3; sie ist jedoch auch eine subjektive Erfahrung, die das Selbstbewusstsein der beiden Heroen des Dramas strukturiert, also ihre Psyche und die Idee, die sie sich von sich selbst und anderen machen. Dieses Drama hat nicht allein die Züge eines materiellen Konflikts zwischen einer Besatzungsmacht und einer Kraft des Kampfes und der Befreiung. Es bezieht sich eher auf eine problematische Situation, in der das Selbstbewusstsein gänzlich durch die Existenz des Anderen und dessen Diskurs vermittelt, ja bedingt ist. Der Kolonisierte ist auf doppelte Weise Opfer dieses Dramas: Einmal, weil ihm seine kulturelle Identität durch die Unterdrückung seines symbolischen Universums zugunsten dessen des Kolonisators genommen wird. Und ein zweites Mal, weil er seiner menschlichen Identität beraubt, d. h. entmenschlicht ist.

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Aus: Sarhan Dhouib
Erinnerungen an Unrecht

  • 1. Auflage
  • Erscheinungsdatum: 05.03.2021
  • 440 Seiten
  • broschiert
  • 49,90 € *

ISBN 9783958320833