Magazin 10/2018

Digitalisierung der Lebenswelt als Angriff auf die Vulnerabilität

Velbrück Wissenschaft freut sich, im kommenden Frühjahrsprogramm unter anderem das neue Buch von Martin W. Schnell mit dem Titel »Digitalisierung der Lebenswelt« präsentieren zu können. Darin wird der Autor Thematiken aus seiner ebenfalls bei Velbrück Wissenschaften erschienenen Grundlagenstudie »Ethik im Zeichen vulnerabler Personen. Leiblichkeit – Endlichkeit – Nichtexklusivität (2017)« aufgreifen und sie zu einer Zeitdiagnose im Horizont einer Sozialphilosophie der Vulnerabilität erweitern. Im folgenden Text umreißt er für das Verlagsmagazin thesenhaft sein Projekt.

 

Martin W. Schnell ist Professor am Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Ethik an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke.

 

 

Fast jede technologische Revolution beinhaltet einen Angriff auf die Vulnerabilität des endlichen Lebens. Dieser Angriff tritt wechselweise als Überwindung, Leugnung, Abschaffung oder als Verbesserung des Daseins auf.

 

a. Postbiologie

Im Renaissancehumanismus von Pico della Mirandola wird das Innere des menschlichen Geistes als Träger von Würde (de hominis dignitate) hervorgehoben und der menschliche Leib als ein malum, das die Vollkommenheit des Daseins verunmöglicht.

Die modernen Bio-, Neuro- und KI-Wissenschaften und –technologien verstehen sich seit den 60er Jahren als diejenigen, die das malum überwinden können. Klassisch ist die Programmschrift von Hans Moravec aus den späten 80er Jahren. Demnach müssen wir am Menschen den üblichen Dualismus exekutieren: Körper und Geist. Der Geist ist potentiell unsterblich, weil er aber an einen endlichen und damit mangelhaften Körper gebunden ist, kann er seine Macht nie völlig ausschöpfen. Das ändert sich, wenn es gelingt, »unseren Geist aus unserem Gehirn zu befreien« (Moravec 1990, 152). Der Mensch kann ins Unendliche einer »postbiologischen Welt« (ebd., 14) aufbrechen. Diese Möglichkeit stand der Renaissance noch nicht zu Verfügung. Der menschliche Mangel ist nun ausgeglichen.

In den 90er Jahren dann werden die Möglichkeiten des Internets mit der visionären Robotik verschmolzen. Die Anthropologie des Cyberspace sieht die Menschheit als kollektives Cogito vor. Jeder kann mit jedem kommunizieren und jeder lernt von jedem. Science und science fiction vermischen sich, weil die Natur erstmals als digitale Natur verstanden wird.

Der Mensch ist ein Cyborg und tritt als Nachricht auf, weil er in quantifizierbaren Daten zu fassen ist. Diese und andere Ideen sind zum Ende des letzten Jahrhunderts bereits komplett ausformuliert. »Der Leib und die Endlichkeit des Menschen, die Widerständigkeit der Dinge, kurz: das, was bisher als Schicksal galt, wird komplett zur Option erklärt.« (Schnell 2002, 165) Die Diskussion um die Digitalisierung knüpft an diese Macht an.

 

b. Digitalisierung der Lebenswelt

Der umfassende Prozess der weltweiten Digitalisierung prägt seit langer Zeit alle gesellschaftlichen Systeme in unterschiedlicher Weise. Zahlreiche Veränderungen sind bereits real geworden, andere und weitere werden erwartet, erhofft und befürchtet. Die digitale Transformation kann als ein Angriff auf die selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten und damit als ein solcher auf das, was Edmund Husserl als Lebenswelt bezeichnet, verstanden werden (vgl.: Fellmann 2006, 134ff). Die Lebenswelt ist die Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt, von der alle Sinnbildungen ausgehen und auf die alle Sinnbildungen wiederum abzielen. Wir befinden uns derzeit in einem Prozess der »Digitalisierung der Lebenswelt«.

Die Digitalisierung hat zugleich mindestens drei Triebkräfte: das Dispositiv aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Die jeweiligen Triebkräfte verfolgen mit der Digitalisierung Interessen, die sich aber nicht decken. Sie sind jenseits von Pro und Contra angesiedelt, da sie weder zu Bejahung noch zur Ablehnung anstehen. Die Folgen der Digitalisierung der Lebenswelt sind ambivalent, denn es gibt wünschenswerte und nichtwünschenswerte Konsequenzen.

 

c. Thesen zur Digitalisierung der Lebenswelt im Licht einer Sozialphilosophie der Vulnerabilität

 

1. Digitalisierung ist der Angriff auf die Materialität der Lebenswelt.

Als Eros wird die Kraft bezeichnet, die Personen, die einander an einem bestimmten Ort in der Welt begegnen, zueinander zieht. Die Initialzündung ist dabei der Blick auf die leibliche Erscheinung des Anderen. Gang, Haltung, Aussehen fallen auf. Von hier aus gilt es, den Anderen kennen zu lernen. Seinen Namen, Alter, Stand, Klasse, Beruf. Die Digitalisierung, die Menschen zusammen bringt, die sich im Alltag nie getroffen hätten, verkehrt diesen Logos ins Gegenteil. Durch das digitale Matching werden zunächst ortlose, quantifizierbare Eigenschaften einer Person in Form von Daten angeboten. Man erfährt zuerst Namen, Alter, Stand, Klasse, Beruf und hat aufgrund der Datenlage dann zu entscheiden, ob eine Anziehungskraft bestehen könnte. Diese Versuchsanordnung zerstört jedoch den Eros – sofern nicht ein glücklicher Zufall, der die Absicht begünstigt, hinzutritt.

 

2. Digitalisierung ist die Transformation der Lebenswelt in quantifizierbare Daten.

Bäume filtern das Treibgas CO2 aus der Atmosphäre. Bäume sind wichtig. Aber der einzelne Baum zählt nichts! Für das Konzert des Sängers Ed Sheeran im Sommer 2018 hätten auf einem Parkplatz der Düsseldorfer Messe 104 Bäume gefällt werden sollen. Der Oberbürgermeister versprach, dass anderswo neue und mehr Bäume gepflanzt würden. Der Baum erbringt eine Leistung, die bilanziert werden kann. 105 Bäume sind besser als 104, weil mehr Treibgas gebunden wird. Dieses Mehr ist mit Punkt und Komma bezifferbar. Ein Baum ist digitale Natur.

 

3. Digitalisierung ist Transformation von Verantwortung in abzahlbare Schuld.

Der private und öffentliche Verkehr ist gefährlich. Es ist sicherer und daher geboten, wenn nicht mehr der Mensch selbst, sondern automatisierte Systeme fahren, wie die Ethikkommission »Automatisiertes und Vernetztes Fahren« im Juli 2017 festgehalten hat. Der Sicherheitsdiskurs sagt, dass es besser ist, wenn auf einer stark frequentierten Kreuzung jährlich nur 22 statt 29 Menschen sterben. Verantwortung wird zur abzahlbaren Schuld. Das ethische Argument, dass der Wert des Lebens nicht quantifizierbar ist und dass deshalb jeder Tote einer zu viel ist, hat im Sicherheitsdiskurs keinen Platz.

 

4. Digitalisierung ist Optimierung des Lebens

Ein Cyborg ist ein Mensch, dessen Fähigkeiten durch Implantate verbessert werden. Ein RFID-Chip funktioniert als Datenspeicher, der das Fühlen und Verarbeiten von Reizen optimiert und zudem gänzlich neue Optionen eröffnet. Wenn das Implantat in die Fingerkuppe eingesetzt wird, ist es dem Cyborg möglich, Musik zu hören, wenn er seinen Finger ans Ohr legt. Der Einsatz solcher Implantate kann Menschen mit Behinderungen helfen, sich in der Welt besser zu orientieren. Die Optimierung ist als solche allerdings nicht nur eine Option, sondern auch eine Norm, die diejenigen als nicht normal aussondert, die sich nicht optimieren lassen.

 

5. Digitalisierung ist Kontrolle

Zur Gewährleistung von Sicherheit lässt die Polizei in Shanghai in einigen Stadtteilen Gesichtserkennungsdrohnen ausschwärmen. Sie vergleichen biometrische Fotos von Straftätern mit den Gesichtszügen von Passanten und erzielen Treffer in 90 Prozent der Fälle. Kontrolle und Überwachung beenden die Freiheit der Person, weil im Zeichen von herzustellender Sicherheit a priori jeder ein Verdächtiger ist.

 

6. Digitalisierung verdeckt die Angst vor dem Tod

Die Verbesserung der Altenpflege sieht in Shanghai vor, dass personenbezogene Daten besonderer Art von Rentner erhoben, gespeichert und ausgewertet werden. Body-Mass-Index, Blutdruck, Atemfrequenz werden permanent durch Watches an Interventionsteams gemeldet, die in Krisenfällen eingreifen. Alle bekannten Visionen einer perfekten Gesundheitskontrolle sind totalitär. Der Totalitarismus hat Angst vor dem Tod, weil sich der Tod seinem Zugriff entzieht.

 

Digitalisierung der Lebenswelt

Angesichts der ambivalenten Entwicklung der Digitalisierung, die gleichermaßen zu befürwortende wie auch höchst problematische Tendenzen produziert, ist es üblich, lediglich fachintern zu diskutieren. Ingenieure, Ökonomen, Techniker, Geistes- und Sozialwissenschaftler behandeln die Digitalisierung jeweils als monodisziplinäres Problem. Neben einem gewiss notwendigen fachlichen Tiefgang ist aber auch eine in die Breite gehende Reflexion der Digitalisierung sinnvoll.

Der Band »Digitalisierung der Lebenswelt« verbindet daher einige Gesichtspunkte miteinander, die üblicherweise nicht zusammen diskutiert werden: Politik, Wirtschaft, Verkehr, Wissen, Bildung, Literatur, Gesundheit, Erotik und Ethik. Die Frage nach der Lebenswelt bildet einen Querschnitt, der die Disziplinen miteinander ins Gespräch bringt.

 

Literatur

Fellmann, F. (2006): Phänomenologie, Hamburg.

Moravec, H. (1990): Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg.

Schnell, M.W. (2002): »Ideologie und Anthropologie. Zur Wiederkehr des leiblosen Geistes«, in: Greving, H./Gröschke, D. (Hg.) (2002): Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik, Bad Heilbrunn.