Magazin 01/2023

Tote Theoretiker. In der Scherbenwelt der Großtheorien

Ein Beitrag von Felix Keller

Theoretiker sterben. Theorien ebenso. Selten geschieht beides gleichzeitig. Und doch gibt es eine Beziehung, eine seltsame Verbindung von Körper und Theorie. In einer Schrift Pierre Bourdieus findet sich eine Präambel, die vom Sterben des Zen-Lehrers Feng handelt. Feng erkundigt sich bei seinen Schülern, ob sie von Meistern wüssten, die im Stehen entschlafen seien. Als diese bejahten, fragte er, ob sie von einem Lehrer vernommen hätten, der auf dem Kopf stehend die Erde verlassen hätte. »Bis zum heutigen Tage nicht« lautete die Antwort. Daraufhin stellte Feng sich auf den Kopf und verschied.

Die Erzählung von Bourdieus eigenem Hinscheiden ist weit profaner, vom Redigieren von Manuskripten noch im Totenbett ist die Rede. Sein Tod reiht sich zu jenem anderer Großtheoretiker des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, etwa Jacques Derridas, Michel Foucaults, Lévi-Strauss’, Roland Barthes’, Niklas Luhmanns. Philippe Felschs Werk Der lange Sommer der Theorie, das von einer längst vergangenen großen Zeit der Theorie berichtet, liest sich wie ein Totenbuch, und der Essay endet sinnigerweise auch mit einer Beerdigung.

Sie sterben weiterhin alle weg, die Großtheoretiker, und die Gräber reihen sich im Friedhof der Theorie; verstorbene »Jahrhundertmenschen«, die, so die schon beinahe rituelle Formulierung in den Nachrufen, über alle Maßen verehrt wurden: Weiterlesen (pdf)