Magazin 03/2020

Vertraute Stabilität

Zur trügerischen Ruhe des Vertrauens im Prozess sozialer Verflechtung

Der im Folgenden dokumentierte Kurzvortrag von Julian Valentin Möhring, gehalten am 22.03.2019 in Berlin auf dem Kongress »Psychosomatik in unruhigen Zeiten. Vertrautes und Visionen« der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin, fasst in geraffter Form die Thesen seines jüngst bei Velbrück Wissenschaft erschienenen, gleichnamigen Buchs zusammen.

 

 

Können wir jemandem vertrauen, der zu uns über das Vertrauen spricht? Dieser Frage stand ich während Arbeit an meiner Studie mehrmals gegenüber[1] und möchte die heutige Gelegenheit dazu nutzen, vor einem interessierten Publikum zur Würde des Vertrauens Stellung zu nehmen. Beim Vertrauen ist die Vergesellschaftung zentral. Deshalb schmälert eine Sprachlosigkeit ihm gegenüber, wie es sie in der Soziologie bis in die 1990er Jahre gab, das Ansehen dieser Wissenschaft in der Fachöffentlichkeit[2]. Dennoch, die Verwendung der Kategorie der Vertrauenswürdigkeit erfordert äußerste Vorsicht. Denn ihr wird oft eine zu große Aussagekraft unterstellt! Wie leicht führt die Vertrautheit mit Abläufen, Personen und Institutionen zur alltäglichen Annahme stabiler Erwartungen: Zu einer vertrauten Stabilität gegenseitiger Ruheausbreitung[3], die schnell über die Rolle des Vertrauens innerhalb sozialer Verflechtungen hinwegtäuscht. Die Kategorie der Vertrauenswürdigkeit übernimmt in der Forschung manchmal die Suggestion einer Sicherheit, die sich in Vertrauensbeziehungen selbst herausbildet[4], in ihrem Umgang mit der kognitiven Dissonanz[5]. Theorien des Vertrauens verfangen sich paradoxerweise in der autoritären Abschaffung von Unsicherheit[6], die doch in der Vertrauenspraxis gerade vermieden werden soll. Die vertrauende Ausrichtung an einer offenen Zukunft, sowie an Beziehungsoffenheit steht in Kontrast zur Versicherheitlichung. Vertrauen kann nicht zugleich die Überwindung einer unsicheren Situation und der Inbegriff von Sicherheit oder Stabilität sein. Die Klärung dieses Verhältnisses von Vertrauen und Stabilität steht im Zentrum meiner Arbeit.

Unter Spannung geraten Vertrauenshandlungen in differenzierten Gesellschaften allein durch die Naivität, die dazugehört, um sich willentlich auf gesellschaftliche Prozesse einzulassen. Erik Homburger Erikson favorisierte den Vertrauensbegriff deshalb gegenüber dem der Zuversicht, um die frühkindliche Beziehung zur Mutter sowie erste Versuche der kindlichen Symbolbildung zu erfassen[7]. Je nach Situation, ist es jedoch riskant, sich durch das Vertrauen angreifbar zu machen, weshalb es aus systemtheoretischer Perspektive (konträr zu Erikson) weniger voraussetzungsvoll ist, routiniert zuversichtlich zu sein, als mit dem Vertrauen in eine riskante Vorleistung zu treten[8]. Überwinden lässt sich diese Opposition zwischen der von Hintergrundwissen gespeisten Zuversicht gegenüber einem naiven Vertrauen zu primären Bezugspersonen durch den Blick auf eine sozialhistorsche Entwicklung: Die Abkoppelung des Vertrauensbegriffs von der Treue und dem Gottvertrauen ist relativ neuen Datums und nach wie vor unvollständig. Sie hängt mit der Verfestigung des Vertrauens in immer neuen Bereichen der Gesellschaft zusammen, die ihrerseits zur Begriffsprägung beitragen[9]. Zivilisatorisch erfuhr das Vertrauen mit dem Prozess der Informalisierung und der zunehmenden Vernetzung in der Globalisierung einen ungemeinen Bedeutungszuwachs[10]. Es wurde dank dieser günstigen Bedingungen zu einem bleibenden, wichtigen Prozess in zwischenmenschlichen Beziehungen. Es bedingt die Verlängerung von Interdependenzketten und ist auf einen hohen Grad voraussetzbarer Selbstbeherrschung unter Mitmenschen angewiesen – auf eine bestimmte Affektlage[11].

Alle drei Perspektiven erfassen Aspekte der Stabilisierung des Vertrauens, je nachdem, ob der Blick nach innen, nach außen oder zurück weist. Angezeigt ist somit die Verknüpfung der subjektiven Vertrauensaneignung, der gesellschaftlichen Vertrauenspraktiken und der historischen Vertrauensentwicklung hinsichtlich der Frage nach der Stabilisierung von Vertrauensverhältnissen[12].

In seiner Betrachtung des Zivilisationsprozesses fügte Norbert Elias diese Gesichtspunkte zusammen, als langfristige Veränderungen im Denken und Handeln verdichtet im Begriff der Verflechtung – freilich ohne sich dem Thema Vertrauen zuzuwenden[13].

Als Überbrückung lässt sich der Symbolbegriff einführen, der in Elias Wissenssoziologie als Orientierungsmittel[14] und in der soziologischen Vertrauensforschung als zukunftsgewandtes ›So-Tun-Als-Ob‹ eine tragende Rolle spielt[15].

Als Zusammenfügen von etwas Getrenntem aber Vertrautem[16] führt der Symbolbegriff im Kern die Spannung zwischen Vertrauen und Stabilität mit sich und trägt sie in eine der basalsten Schichten der Identität hinein, die über die imaginäre Vereinzelung hinausweist[17]. In der Symbolbildung[18] treffen die Perspektiven der Verinnerlichung, der Veräußerlichung und der Vergangenheit des Vertrauens aufeinander und bezeichnen etwas Bleibendes. Bei der Symbolbildung geht es um etwas subjektiv Wichtiges, Umsorgtes, das aber in der Welt verankert ist und sich nicht gänzlich aneignen lässt. Sie schließt deshalb eine Praxis des Vertrauens ein, mit der Tendenzen der Verängstigung und Entfremdung abgewehrt werden müssen[19], um zu einem geteilten symbolischen Raum zu gelangen. Diese Räume wiederum bestehen innerhalb eines Kontextes anderer Vertrauensverhältnisse, eines Netzes akzeptierter Verletzbarkeit[20], mit dem sie sich im Prozess des zwischenmenschlichen Zusammenlebens verflechten und verflochten werden: durch die Vertiefung von Inhalten oder durch die Ausdehnung der Vertrauensbeziehung auf weitere Personen. Die Analyse von Vertrauen und Stabilität zeigt an dieser Stelle, dass Symbole und ihre Träger nicht etwa auf Beliebigkeit zurückzuführen sind[21], sondern auf ein Spiel mit dem Vertrauten.

Die Verbindung von Vertrauen und Stabilität besteht, in Abwandlung eines bekannten Marx’schen Credos, somit darin, dass das Zusammensein das Vertrauen bestimmt.

 

 


[1] Möhring, Julian (2014): Trust in Figurations. Unveröffentlichter Vortrag auf der Elias Conference in Leicester.

[2] Gambetta, Diego (Hg.) (1988): Trust. Making and breaking cooperative relations. Oxford, Basil Blackwell (S.IX-X); Luhmann, Niklas (2014[1968]): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Konstanz, UTB (Einleitung).

[3] Schottlaender, Rudolph (1957): Theorie des Vertrauens. Berlin, de Gruyter (S.13).

[4] Gambetta, Diego; Hamill, Heather (2005): Streetwise. How taxi drivers establish customer's trustworthiness. New York, Russell Sage Foundation; O‘Neill, Onora (2002): A question of trust: The BBC Reith Lectures. Cambridge, Cambridge University Press.

[5] Koller, Michael (1997): »Psychologie interpersonalen Vertrauens: Eine Einführung in theoretische Ansätze«. In: Schweer, Martin: Interpersonales Vertrauen. Wiesbaden, S.13-26.

[6] Accarino, Bruno (1984): »Vertrauen und Versprechen. Kredit, Öffentlichkeit und individuelle Entscheidung bei Simmel«. In: Dahme; Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S.116-146 (S.136).

[7] Erikson, Erik H. (2008 [1959]): Identität und Lebenszyklus: Drei Aufsätze. Berlin, Suhrkamp.

[8] Luhmann, Niklas (2001[englisch 1988]): »Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen«. In: Hartmann, Martin: Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt/New York, Campus S.143-160 (S.156).

[9] Frevert, Ute (2013): Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München, CH Beck; Stremmel, Ralf (2006): »Von der ›Treue‹ zum ›Vertrauen‹? Friedrich Alfred Krupp und seine Beschäftigten (1887 bis 1902)«. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51(1), S.70-92; Welskopp, Thomas (2014): »Vertrauen. Drei Beispiele aus einer praxistheoretisch orientierten Geschichtswissenschaft«. In: Baberowski, Jörg (Hg.): Was ist Vertrauen? Frankfurt am Main, Campus, S.49–72; Weltecke, Dorothea (2003): »Gab es ›Vertrauen‹ im Mittelalter? Methodische Überlegungen«. In: Frevert, Ute (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S.67-89.

[10] Wouters, Cas (1999): Informalisierung. Norbert Elias Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert. Opladen, Westdeutscher Verlag.

[11] Elias, Norbert (1997a[1939]): Über den Prozess der Zivilisation. Bd1. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

[12] Einen beachtlichen Versuch in dieser Richtung unternimmt Martin Hartmann, der mit seiner praxeologischen Schwerpunktsetzung jedoch die Stabilisierung des Vertrauens nicht kritisch genug in den Blick bekommt. Hartmann, Martin (2011): Die Praxis des Vertrauens. Berlin, Suhrkamp Verlag.

[13] Elias 1997

[14] Elias, Norbert (2001): Symboltheorie. Gesammelte Werke, Bd. 13. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

[15] Silver, Allan (1989): »Friendship and trust as moral ideals. An historical approach«. In: European Journal of  Sociology 30(2), S.274-297;   Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main, Suhrkamp (S.137f.); Parsons, Talcott (1951): The social system. New York, Free Press (S.312f); Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Otthein Ramstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 2. Frankfurt am Main, Suhrkamp (S.393); Garfinkel, Harlod (1963): »A conception of and experiments with ›trust‹ as a condition of concerted stable  actions«. In: Harvey, O.J. (Hg.): Motivation and social interaction. New York, The Ronald Press Company, S.187-238.

[16] Hosking, Geoffrey (2014a): Trust. A history. Oxford, Oxford University Press (S.40); Stevens, Anthony (2001): Ariadne's Clue: A Guide to the Symbols of Humankind. Princeton, Princeton  University Press; Lévi-Strauss, Claude (1993[1948]): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main,  Suhrkamp (S.115f.).

[17] Benjamin, Jessica (1998[1988]): Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der  Macht. Basel, Frankfurt am Main, Stroemfeld/Roter Stern (S.44); Lacan, Jacques (1986[1948]): »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der  psychoanalytischen Erfahrung erscheint«. In: Ders.: Schriften I. Weinheim, Berlin, Quadriga, S. 61–70.

[18] Klein, Melanie (1946): »Notes on some schizoid mechanisms«. In: The international journal of psycho-analysis  27, S.99-110; Segal, Hannah (1992): Wahnvorstellung und künstlerische Kreativität. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart, Klett-Cotta (S.86).

[19] Schottlaender, Rudolph (1957): Theorie des Vertrauens. Berlin, de Gruyter (S.30); Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg, Hamburger Edition HIS (S.112).

[20] Baier, Annette (1994): Moral prejudices: Essays on ethics. Harvard University Press.

[21] Lincke, Harold (1981): Instinktverlust und Symbolbildung. Die psychoanalytische Theorie und die  psychobiologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens. Berlin, Severin und Siedler.