Die Ordnung der Berührung

Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise

  • 1. Auflage
  • Erscheinungsdatum: 01.10.2020
  • broschiert
  • 132 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-95832-226-4
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Beschreibung


Was können wir aus der Coronakrise über moderne Gesellschaften lernen?
Gesa Lindemann zeigt auf, dass die Strukturen der modernen Gesellschaften stabil bleiben, sich unsere alltägliche Berührungsordnung dagegen verändert bzw. verändern kann.

Die Leserinnen und Leser erfahren etwas darüber, in welchem Verhältnis Staat, Politik, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft zueinanderstehen und wie diese Bereiche mit ihren eigenen Voraussetzungen und Zielen unser unmittelbares Zusammenleben bestimmen. Die mediale Fokussierung auf sinnliche Aspekte der alltäglichen Berührungsordnung macht den Zusammenhang mit diesen allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen sichtbar.
In Zeiten von Corona zeigt sich auch, wie die moderne Gesellschaft immer wieder emanzipatorische Hoffnungen nährt, dass z.B. auch tiefverwurzelte rassistische Strukturen verändert werden können. Die Krise scheint das Ethos der Menschenrechte nicht zu beschädigen. Die Ordnung der Gewalt wird thematisiert über Fragen nach sozialer Ungleichheit und Formen struktureller Gewalt, und gerät in der Diskussion über das Machtmonopol des Staates auch ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Davon zeugt nicht zuletzt die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Diese Fragen werden im Buch u.a. diskutiert:
• Wie ist das Machtmonopol des Staates definiert?
• Ändert sich die Ordnung der Gewalt?
• Wie verändert sich das Ethos der Menschenrechte bzw. welche Bedeutung haben Grundrechte?
• Wie verändert sich unsere Ordnung der Berührung – die Art wie wir uns ansehen, miteinander agieren, uns körperlich berühren?
• Welche Rolle spielt die Digitalisierung?
• Wie wird soziale Ungleichheit in der Krise sichtbar? (Stichwort Herdenimmunität)
• Welche unterschiedlichen Sorgelogiken machen die Arbeit von Staat, Politik, Recht,
Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Medizin aus?
• Welche Rolle kommt der öffentlichen Berichterstattung zu? Und welche Chancen ergeben sich aus der Fokussierung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche?
• Wann kann man von struktureller Gewalt sprechen? Und wie wird diese in der Krise sichtbar? (Stichwort Black-Lives-Matter)

Gesa Lindemann im "Wohnzimmergespräch" / Goethe-Institut Ungarn:

Gesa Lindemann


Gesa Lindemann

Gesa Lindemann studierte Soziologie und Rechtswissenschaft in Göttingen und Berlin und ist seit 2007 Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie der Menschenrechte, Methodologie der Sozialwissenschaften, Anthropologie, Medizinsoziologie. 

1985 schloss Gesa Lindemann ihr Studium mit dem Diplom in Soziologie ab. Sie war von 1987 bis 1988 und 1990 bis 1992 Wissenschaftliche Angestellte der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin. 1993 promovierte sie an der Universität Bremen mit dem Thema »Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht«. Anschließend wurde sie von 1993 bis 1994 Lehrbeauftragte für Soziologie an der FU Berlin und von 1994 bis 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Heinz Steinert an der Universität Frankfurt am Main. Gesa Lindemann habilitierte sich 2001, danach verschiedene Lehraufträge und Vertretungsprofessuren sowie Visiting-Professuren in Großbritannien, Brasilien und Schweden.

Pressestimmen


Zusammenfassend kann aus der Perspektive der Rezensenten festgehalten werden, dass es sich bei diesem Werk um eine skizzenhafte Anwendung auf die im Gange befindliche Krise, aber die tiefgehende Fundierung klar durchschein lassende Leistungsschau avancierter Sozialtheorie handelt, die interessante Perspektiven auch über den engeren Kern des Theoriediskurses hinaus eröffnet, und dabei einen gut handhabbaren Einstieg in Lindemanns Theoriewelt bietet.
René Tuma/Ajit Singh, Soziologische Revue 2022; 45(1)

»Können Sie sich eine berührungs­lose Gesellschaft vorstellen?«

Nein [...] Eine berührungslose Gesellschaft wären tote, nebeneinander liegende Körper. Das ist dann aber auch keine Gesellschaft mehr. Wenn sie wiederum lebendige Körper haben, die sich nach außen richten, die blicken, die Gesten machen, die andere ansprechen und sich angesprochen fühlen, werden sie immer in einer Gesellschaft leben, die durch Berührungen bestimmt ist und deren Berührungen in einer bestimmten Weise geordnet sind.
Gesa Lindemann im Interview bei Saskia Bommer, Forum. Das Wochenmagazin, 6. Nov. 2020

»Hat die Regierung versäumt, die Bürger daran zu erinnern, dass die Staatsgewalt existiert?«

Es hat sich in den letzten Jahren abgezeichnet, dass es zu einer Wiederkehr des Staates kommt. Und das ist durch Corona forciert worden. [...] Wir bekommen in der Krise staatliche Vorschriften darüber, wie wir privat zu leben haben. Das ist etwas, das vor zwei Jahren vollständig undenkbar gewesen wäre. Und auf einmal wird es als notwendig erachtet. Das heißt: Wir erleben uns einerseits als politisch ohnmächtig - wegen der real existierenden Verschwörungen - und andererseits können wir jetzt noch nicht einmal mehr unser privates Leben führen, wie wir wollen. Eigentlich muss man sich wundern, dass zu Beginn der Pandemie so wenig Widerstand gab.
Gesa Lindemann im Interview in der NordWestZeitung, 18.12.2020.
Die vier Gesichtspunkte, die Lindemann in den vier Kapiteln unter Berücksichtigung der „Berührungsordnungen“ und ihrer Veränderungen untersucht, sind durchaus aufschlussreich, um den Prägungen der gegenwärtigen Situation auf die Spur zu kommen. Lindemann diskutiert davon ausgehend eine ganze Reihe von einschlägigen Phänomenen, wie die Verbreitung von Verschwörungstheorien, die Rolle der Medizin in der staatlichen Verwaltung, das Verhältnis von Staat und Familie, die Aufmerksamkeits- und Sorgestrukturen von Wirtschaft und Wissenschaft und schließlich die Auswirkung der Pandemie auf soziale Bewegungen.
Francesca Raimondi, Soziopolis, 24.03.2021.

Können Sie sich vorstellen, dass wir bestimmte Verhaltensweisen auch nach der Pandemie beibehalten?

​Was sicher bleiben wird, ist die stärkere Durchsetzung digitaler Technologien. Videokonferenzen, Arbeiten im Homeoffice – das ist etwas, was bleiben wird, weil die Coronakrise einen zuvor schon bestehenden gesellschaftlichen Trend verstärkt hat. Das kann man einerseits positiv sehen. Es hat aber auch den Effekt, dass problematische Aspekte, die mit der Digitalisierung einhergehen, weniger in der Kritik stehen. Beispiel Datenschutz: Das war und ist ein hohes Gut und wurde so auch öffentlich in der Vergangenheit kaum in Frage gestellt. Nun sehen wir, dass etwa die Corona-Warn-App in die Kritik gerät, weil sie bestimmte Funktionen eben aufgrund der Datenschutzbestimmungen nicht erfüllen kann. Diese Kritik wäre vor Corona nicht denkbar gewesen. Die Geschäftsmodelle, die auf das Sammeln von Nutzerdaten angewiesen sind, etwa von Google, Microsoft oder Facebook, sind jetzt etwas aus der Kritik geraten. Das haben sie Corona zu verdanken.
Gesa Lindemann im Interview mit Björn Buske, Nordwestzeitung, 25.05.2021.
Überzeugend führt sie [Lindemann] anhand der Corona-Krise ein Argument vor Augen, das einst zum Standardinventar der politischen Theorie gehörte, inzwischen aber in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften aus der Mode gekommen ist: Der liberal-demokratische Verfassungsstaat, ja: der westliche Nationalstaat, ist eine wertvolle politische Ordnung. Dabei zeigt sich der Text durchaus sensibel gegenüber deren Schattenseiten. Immer wieder wird auf sozioökonomische, ethnische und genderbezogene Ungleichheiten beim Zugriff auf die Ordnungsleistung des Staates hingewiesen; und auch die Veränderungen des öffentlichen Raumes durch die Corona-Maßnahmen werden kritisch reflektiert, wenngleich den drastischen Grundrechtseinschränkungen bei der Pandemie-Bekämpfung mehr Aufmerksamkeit hätte geschenkt werden können. Jedenfalls hat die Autorin der Versuchung widerstanden, zugunsten von analytischen Pointen gleichsam das Kind mit dem Bade auszuschütten – und so einen wichtigen Beitrag zu einer bisweilen überdrehten Debatte geleistet.
Kristina Chmelar und Christoph Meißelbach, Jahrbuch für Extremismus & Demokratie 2021